ISIS-Terror im Irak – Verantwortliche und Lösungen dringend gesucht
Wir werden im Moment Zeuge einer besorgniserregenden Entwicklung im ohnehin schon seit geraumer Zeit schwer gebeutelten Irak. Die dschihadistische Terrorgruppe „Islamischer Staat im Irak und (Groß-) Syrien“ (kurz: ISIS) rückt dort scheinbar unaufhaltsam vor. Obwohl zahlenmäßig der irakischen Armee deutlich unterlegen, konnten die ISIS-Truppen in kurzer Zeit die irakischen Städte Mossul und Tikrit einnehmen. Nun sollen sie vor den Toren Bagdads stehen. Seit ihrer Gründung kämpft ISIS als sunnitische Widerstandsgruppe gegen die schiitische Staatsführung des Irak, die nach dem 2003 von den USA militärisch herbeigeführten Sturz Saddam Husseins an die Macht kam. Erklärtes Ziel der ISIS-Gruppe ist es, ein grenzübergreifendes islamisches Kalifat zu errichten, das Teile von Syrien und Irak umfasst. Die Terrorgruppe verbreitet von ihrem Feldzug Bilder von Hinrichtungen ihrer Gegner. Deren Authentizität ist momentan zwar nicht zweifelsfrei zu klären, in jedem Falle erfüllen sie ihren Zweck, nämlich Angst und Schrecken unter ihren Gegnern zu verbreiten.
Nicht nur die USA, die sich erst 2011 unter der Anleitung Barack Obamas militärisch aus dem Irak weitestgehend zurückgezogen hatten, auch der Iran, der die schiitische Regierung des Irak unterstützt, ist aufs Höchste alarmiert. Sogar eine Annäherung und mögliche – zumindest niederschwellige – Kooperation zwischen den traditionell verfeindeten Staaten wurde ins Gespräch gebracht, um die Lage im Irak zu stabilisieren.
Wer ist verantwortlich für diese dramatische Entwicklung? Und wie soll man darauf reagieren? Und was ist von der möglichen Kooperation der USA mit dem Iran zu halten?
Frank Lübberding findet es auf wiesaussieht ja schon seltsam, dass die zahlenmäßig so deutlich unterlegenen und verhältnismäßig schlecht ausgebildeten ISIS-Truppen den Nordirak anscheinend überrennen. Er ist skeptisch und hält ISIS für eine Art Scheinriesen bzw. einen „nützlichen Idioten“, der von verschiedenen Seiten benutzt werde, um je unterschiedliche Interessen voranzutreiben. Benutzt, um etwa Druck auf den irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki auszuüben, damit dieser den im Irak lebenden Minderheiten – insbesondere den Sunniten und Kurden – mehr Zugeständnisse mache. Benutzt, als Schreckgespenst, um die militärische Unterstützung des Westens für die säkulare Opposition in Syrien zu rechtfertigen. Oder benutzt, um den Iran – der mit al-Maliki verbandelt ist – als Machtfaktor in der Region in Schach zu halten bzw. zu schwächen, woran insbesondere Saudi Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten gelegen sei. Komplizierte Verhältnisse also.
James Bloodworth argumentiert auf Left Foot Forward gegen einige der sich im Umlauf befindlichen Schuldzuweisungen für die momentane dramatische Zuspitzung der Situation im Irak. Nicht der militärisch durch die USA herbeigeführte Sturz Husseins sei das Problem gewesen, sondern das, was zwischen 2003 und 2007 darauf folgte. Die neokonservative US-Administration hätte wohl geglaubt, sie könne einfach kurz in den Irak hinein- und wieder herausmarschieren, ohne dort für geordnete Verhältnisse zu sorgen. Dass man zudem nach dem Umsturz massenhaft irakische Militärs und sunnitische Staatsangestellte in die Arbeits- und Perspektivlosigkeit geschickt habe, sei ein folgenschwerer Fehler gewesen. Unverantwortlich seien aber auch die damaligen Forderungen der Antikriegsbewegung zum sofortigen amerikanisch-britischen Truppenrückzug gewesen: ein solches Vorgehen hätte den Irak einfach den islamischen Extremisten überlassen und ein falsches Signal ausgesandt. Einen Fehler sieht Bloodworth weniger darin, dass Obama die amerikanischen Truppen aus dem Irak abgezogen habe, sondern dass er es versäumt habe, die gemäßigten Oppositionskräfte in Syrien entschieden zu unterstützen. Denn gerade aus dem vom Bürgerkrieg erschütterten Syrien erfahre ISIS nun einen guten Teil seiner Unterstützung.
Auf flatworld weist Clemens Wergin auf die Mitschuld der USA an der derzeitigen Lage in noch einer anderen Hinsicht hin: Anstatt den aus den irakischen Wahlen 2010 als Sieger hervorgegangen – eher westlich orientierten und die Konfessionsgrenzen überschreitenden – Ayad Allawi bei der Regierungsfindung zu unterstützen, hätten die USA auf den dem Iran genehmeren al-Maliki gesetzt. Dies insbesondere deshalb, weil sich die USA noch weiter aus der Verantwortung im Irak herausziehen wollten. Mit seinem – vom Iran unterstützten – Kurs, die Sunniten systematisch aus dem Staatsapparat zu entfernen bzw. fernzuhalten, habe al-Maliki viele sunnitische Stämme den ISIS-Truppen zumindest gewogen gemacht, wenn nicht in die Arme getrieben. Nur so sei deren schneller Vormarsch möglich gewesen. Wenn die USA nun hinsichtlich der Situation im Irak mit dem Iran kooperieren wolle, sei gerade aufgrund dieser problematischen Vorgeschichte äußerste Vorsicht geboten, so Wergin.
Doch wie soll man auf die Herausforderung durch die ISIS-Truppen reagieren? Zumindest nicht mit einer militärischen Intervention des Westens, findet Paul Rogers auf openDemocracy. Rogers macht darauf aufmerksam, dass es genau das sein könnte, was die ISIS-Planer herbeiführen wollten. Um dieser Vermutung nachzugehen, versucht sich Rogers in die Lage eines ISIS-Strategen zu versetzen. Was die zahlenmäßig relativ kleine ISIS-Truppe nach den überraschenden militärischen Erfolgen nun benötige, um sich zu konsolidieren und tatsächlich ein Kalifat errichten zu können, sei weiterer personeller, materieller und finanzieller Zuwachs. Dazu mobilisiere man am besten, so Rogers, wenn man sich propagandistisch als Opfer westlicher Militärschläge inszenieren könne. Unter anderem aus diesem Grund hält Rogers eine mögliche militärische Intervention des Westens für einen schwerwiegenden Fehler.
In vielen gewaltsamen Konflikten ist guter Rat teuer. Man kann dies momentan auch gut im Ukraine-Konflikt beobachten. Die Suche nach Verantwortlichen ist ebenso schwierig, wie das Auffinden von Lösungen. Wenn Bilder von Gräueltaten in den Medien die Runde machen, fällt es besonders schwer ruhig und besonnen zu bleiben. Doch mit Schnellschüssen – militärischen insbesondere – ist wohl niemandem geholfen.